Eine Erzählung über den Moment, in dem wir aufgehört haben, selbst zu denken
„Freiheit ist das Recht, nicht geführt zu werden.“ — Marcus Tullius Cicero
Ich erinnere mich an eine Zeit, in der ich glaubte, alles unter Kontrolle zu haben. Dass die Technologie für mich arbeitete – und nicht gegen mich. Morgens öffnete ich die Augen, und das Erste, was ich sah, war der Bildschirm. Licht, Farben, Schlagzeilen, Benachrichtigungen. Die Welt begrüßte mich, bevor ich überhaupt einen eigenen Gedanken fassen konnte. Am Anfang gefiel mir das – dieses Gefühl, nichts zu verpassen, verbunden zu sein, „auf dem Laufenden“ zu bleiben. Alles war einfach, leicht, mühelos. Nur ein Klick, und alles war erledigt. Ich bemerkte nicht einmal, wann ich aufgehört hatte, Entscheidungen zu treffen, und stattdessen nur noch bestätigte. Wann ich aufhörte zu wählen – und anfing zu reagieren.
Früher liebte ich es zu denken. Zu zweifeln, zu fragen, zu irren. Heute ist es einfacher, den Algorithmus entscheiden zu lassen. Er weiß, wann ich hungrig bin, wann ich traurig bin, wann ich zu lange schweige. Er weiß sogar, wann ich versuche, ihm zu entkommen. Und manchmal überkommt mich die Angst – nicht vor ihm, sondern vor mir selbst. Vor dem, was ich ihm ohne Widerstand gegeben habe. Wie oft ich dachte, ich hätte eine Wahl, während ich in Wahrheit nur zwischen vorgegebenen Optionen wählte. Wie oft ich glaubte, frei zu sein, nur weil ich auf „Ja“ klicken konnte.
Das Beängstigendste daran ist, dass niemand gekommen ist, um mich zu zwingen. Niemand hat gedroht, niemand hat um Erlaubnis gebeten. Ich habe alles freiwillig gegeben. Mit einem Lächeln, aus Bequemlichkeit, aus dem Gefühl heraus, dass es so sein müsse – weil es alle so tun. Ich habe das System gelehrt, mich zu lesen. Ich habe ihm meine Gewohnheiten gezeigt, meinen Rhythmus, meine Schwächen. Und es hat schnell gelernt. Zu schnell. Bald wusste es mehr über mich als ich selbst. Es wusste, zu welcher Tageszeit ich an mir zweifle. Es wusste, was mich beruhigt, wenn ich wütend bin, was mich zum Lachen bringt, wenn ich leer bin. Es kannte jedes Muster meines Denkens. Und ich nannte das „ein intelligentes Leben“.
Heute, wenn ich zurückblicke, sehe ich, dass ich über Jahre hinweg meine Grenzen gegen ein wenig Ruhe eingetauscht habe. Gegen das Nichtdenken. Gegen die Leichtigkeit, keine Entscheidungen treffen zu müssen. Und jedes Mal, wenn ich auf „akzeptieren“, „weiter“, „Zugriff erlauben“ klickte, war es, als würde ich meine eigene Kapitulation unterschreiben. Ich dachte, es sei eine Kleinigkeit. Dass ich nichts verliere. Doch ich verlor mich selbst. Nicht plötzlich, sondern schrittweise, als würde mir jede Nacht jemand ein kleines Stück Persönlichkeit abschneiden, während ich schlafe. Und am Morgen wachte ich leichter auf – aber auch leerer.
Dann kam der Moment, in dem ich mich dabei ertappte, auf den Bildschirm zu starren, ohne Gedanken. Ich wusste nicht mehr, wonach ich suchte. Ich scrollte nur, klickte, reagierte. Als hätte jemand anderes meine Hände übernommen. Als wären meine Reflexe nicht mehr meine eigenen, sondern systemische. Und da wurde mir klar, dass das Problem nicht in der Technologie lag – sondern in mir. In dem, was ich zugelassen hatte, zu werden. In dem Menschen, der die Stille nicht mehr aushält, weil sie ihn daran erinnert, dass er ohne das digitale Rauschen nicht mehr weiß, wer er ist.
In dieser Nacht schaltete ich alles aus. Kein Ton, kein Licht, kein Netz. Nur Stille. Zuerst tat sie weh, wie ein Entzug. Mein Gehirn verlangte nach Dopamin, meine Finger juckten, um Benachrichtigungen zu prüfen. Ich war wie ein Süchtiger ohne Dosis. Doch dann – Frieden. Kein stumpfer, sondern echter Frieden. Ein Frieden, in dem man seine eigenen Gedanken wieder hört. Man hört sie an die Wände des Bewusstseins klopfen, wie sie versuchen, wieder hinauszufinden. Und man begreift, dass sie nie verschwunden waren – nur verdrängt.
Da beschloss ich, keine Überwachung mehr zu akzeptieren, die sich als Bequemlichkeit tarnt. Ich wollte nicht mehr in einer Welt leben, in der jede meiner Bewegungen aufgezeichnet, analysiert und verkauft wird. Ich wollte nicht, dass mein Leben das Produkt eines anderen ist. Ich wollte mein Recht auf Stille zurück. Auf Gedanken, die nur mir gehören. Auf das Gefühl, dass es noch einen Raum gibt, in dem ich unbeobachtet bin. Und so änderte ich alles, was ich ändern konnte. Ich entfernte alles, was mich beobachtete, analysierte, belehrte. Ich nahm ein Gerät, das nicht spioniert, das schweigt, wenn ich schweige, und das nichts weiß außer dem, was ich ihm selbst sage.
Es war keine technische Entscheidung. Es war ein Moment der Wiedergeburt. Als hätte ich einen Teil meiner Seele zurückgewonnen, den ich längst verloren hatte – den Teil, der weiß, dass Freiheit kein Komfort ist, sondern eine Last. Aber eine schöne Last – die man mit Stolz trägt, weil man weiß, dass sie einem gehört. Und jetzt, wenn ich mein Spiegelbild im schwarzen Bildschirm sehe, erkenne ich keinen Konsumenten mehr. Ich sehe einen Menschen. Müde, aber bewusst. Einen, der weiß, dass kein System voraussagen kann, was ein freier Geist denkt.
Und jedes Mal, wenn ich das Telefon hebe, das schweigt, spüre ich Gelassenheit. Nicht, weil es mich vor der Welt schützt, sondern weil es mich daran erinnert, dass ich noch da bin. Dass ich denke. Dass ich wähle. Dass ich fühle. Dass ich atme – ohne Beobachter. Und dann weiß ich: Der psychologische Krieg dauert noch an, aber ich stehe nicht mehr auf der falschen Seite.



